Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Schulschließungen der «Notbremse» verfassungsmäßig

| Politik Politik

Die zentralen Maßnahmen der sogenannten Corona-Notbremse des Bundes aus der dritten Pandemie-Welle sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht wies mehrere Klagen ab, die sich gegen die im Frühjahr angeordneten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie Schulschließungen richteten. Die Grundrechtseingriffe seien durch «überragend wichtige Gemeinwohlbelange» gerechtfertigt gewesen, teilte das Karlsruher Gericht am Dienstag mit. (Az. 1 BvR 781/21 u.a.)

Die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr designierter Nachfolger Olaf Scholz (SPD) wollen sich um 13.00 Uhr mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder zusammenschalten, um im Lichte der Karlsruher Entscheidungen über die Krise zu beraten. Beschlüsse seien bei dem informellen Treffen aber noch nicht geplant, sagte der geschäftsführende Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) in der Sendung «Frühstart» von RTL/ntv.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sieht sich in seinen Forderungen bestärkt. Er schrieb auf Twitter: «Das ist die Grundlage für eine neue Bundesnotbremse. Wir müssen jetzt schnell handeln.»

Die beiden Beschlüsse des Ersten Senats unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth sind die ersten grundsätzlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Freiheitsbeschränkungen in der Corona-Pandemie. Bisher war über die Verfassungsmäßigkeit der verschiedenen Maßnahmen viel gestritten worden.

Formal beziehen sie sich auf den einstigen Maßnahmen-Katalog des Paragrafen 28b, der am 22. April 2021 als «Bundes-Notbremse» ins Infektionsschutzgesetz eingefügt worden war und bis Ende Juni in Kraft blieb. Der Bund wollte damit sicherstellen, dass überall im Land dieselben Maßnahmen greifen, sobald sich die Corona-Lage in einer Region zuspitzt. Das hatte eine Klagewelle ausgelöst.

Die Notbremse musste automatisch gezogen werden, wenn die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an mehreren Tagen die 100 überschritt. Der Wert gibt an, wie viele Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner es binnen einer Woche gibt.

Vorgesehen war dann unter vielem anderem, dass nachts zwischen 22.00 und 5.00 Uhr niemand mehr draußen sein durfte. Nur Sport allein war bis 24 Uhr erlaubt. Außerdem gab es verschiedene Ausnahmen, zum Beispiel in medizinischen Notfällen, wegen des Berufs oder «zur Versorgung von Tieren». Menschen aus einem Haushalt durften sich nur mit einer anderen Person und deren Kindern bis 14 Jahre treffen.

Die Richterinnen und Richter kommen zu dem Ergebnis, dass diese Maßnahmen in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte eingreifen - «in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie» seien sie aber mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. Der Gesetzgeber habe damals die rasante Verbreitung des Virus bremsen wollen, um die medizinische Versorgung bundesweit sicherzustellen. Dies habe «auf tragfähigen tatsächlichen Erkenntnissen» aus der Wissenschaft beruht. Experten würden auch weitgehend darin übereinstimmen, «dass jede Einschränkung von Kontakten zwischen Menschen einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung von Virusübertragungen leistet».

Weiter heißt es: «Umfassende Ausgangsbeschränkungen kommen nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht.» Der Gesetzgeber habe damit indirekt abendliche Treffen in Innenräumen verhindern wollen. «Angesichts der bestehenden Erkenntnislage» sei dies «verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden» gewesen.

Mit ihrer Entscheidung zu den Schulschließungen erkennen die Richter erstmals ein «Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung» an. Das Verbot von Präsenzunterricht beeinträchtige dieses Recht schwerwiegend. Der Gesetzgeber habe angesichts der Situation im Frühjahr aber annehmen dürfen, «dass zwischenmenschliche Kontakte an den maßgeblichen Kontaktorten umfassend "heruntergefahren" werden müssen».

Den Schulen war damals vorgegeben, ab dem Schwellenwert 100 auf Wechselunterricht umzustellen, ein Teil der Schüler musste also zu Hause bleiben. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 165 war Präsenzunterricht ganz untersagt, es gab aber eine Notbetreuung und Ausnahmen, zum Beispiel für Abschlussklassen. Das ist für die Verfassungsrichter ein wichtiges Kriterium. Außerdem sei Distanzunterricht «im Grundsatz gewährleistet» gewesen.

Die zusätzlichen Belastungen der Eltern seien «nur eine ungewollte Nebenfolge». Finanzielle Einbußen seien außerdem abgefedert worden.

Beide Beschlüsse wurden von allen acht Richterinnen und Richtern des Senats einstimmig mitgetragen. Damit ist auch geklärt, dass der Bund formal befugt ist, Corona-Maßnahmen direkt festzuschreiben. Auch der Automatismus, wonach die «Notbremse» bei bestimmten Grenzwerten aktiviert und wieder deaktiviert wird, findet Zustimmung.

Im frisch überarbeiteten Gesetz der künftigen Ampel-Koalitionäre sieht der Paragraf anders aus und enthält nun zum Beispiel die 3G-Regel am Arbeitsplatz. Angesichts der Wucht der vierten Welle und der neuen Omikron-Variante wurde der Ruf nach einer erneuten Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes zuletzt aber immer lauter.

Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen schrieb bei Twitter, das Urteil gebe Rechtssicherheit für zusätzliche Schutzmaßnahmen. Zuvor hatte er der dpa gesagt: «Wir brauchen einen einheitlichen Teil-Lockdown in vielen Regionen des Landes.» Schulen und Kitas sollten mit Masken und täglichen Tests aber möglichst offen bleiben. (dpa)


Zurück

Vielleicht auch interessant

Tübingen ist vorgeprescht: Kaffeebecher und andere Einwegverpackungen werden in der Uni-Stadt besteuert. Andere Kommunen wollen jetzt nachziehen. Doch es gibt noch ein rechtliches Problem. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht noch aus.

Praxen seien als «Verfolgungsbehörden der Arbeitgeberverbände denkbar ungeeignet», schimpft der Präsident des Kinderärzteverbandes. Er verlangt, Ärzte bei Attesten und Bescheinigungen zu entlasten.

Für die Zeit der Fußball-EM hat das Bundeskabinett eine sogenannte „Public-Viewing-Verordnung“ beschlossen. Sie ermöglicht den Kommunen, Ausnahmen von den geltenden Lärmschutzregeln zuzulassen. Vergleichbare Verordnungen hatte es bereits bei früheren Fußball-Welt- und Europameisterschaften gegeben.

Die Institutionen der Europäischen Union haben sich am 15. März im sogenannten Trilog-Verfahren auf eine Verpackungs- und Verpackungsabfallverordnung (Packaging and Packaging Waste Regulation - PPWR) geeinigt. Der Umweltausschuss (ENVI) und das Plenum des Europäischen Parlamentes werden die Einigung voraussichtlich noch im April annehmen.

Einigung im Tarifstreit zwischen der Deutschen Bahn und der Lokführergewerkschaft GDL: Insbesondere bei der 35-Stunden-Woche macht der Konzern weitgehende Zugeständnisse. Weitere Streiks sind damit vom Tisch.

Der Bundesrat hat in seiner heutigen Sitzung dem Wachstumschancengesetz zugestimmt und damit einen Kompromissvorschlag des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat vom 21. Februar 2024 bestätigt. Der DEHOGA stellt klar, dass aus Sicht des Verbandes die Inhalte des Wachstumschancengesetzes nicht ausreichen.

Arbeitgeber sollen die Bedingungen ihrer Arbeitsverträge nach dem Willen der Ampel-Koalition künftig nicht mehr in Papierform mit Unterschrift an künftige Mitarbeiter aushändigen müssen. Ein entsprechender Passus soll in den Gesetzentwurf zur Bürokratieentlastung eingefügt werden.

Vor dem Hintergrund des schwierigen Konjunkturumfelds und einer hartnäckigen Schwächephase des deutschen Mittelstandes mahnt die Arbeitsgemeinschaft (AG) Mittelstand​​​​​​​ von der Wirtschaftspolitik dringend Maßnahmen zur Stärkung der Wachstumskräfte an.

Die Bürokratie in Deutschland ist immens. Die Bundesregierung kündigt mit großen Worten eine Entrümpelung an. Der DEHOGA sagt: Das reicht noch lange nicht. Der Verband sagt, dass insgesamt immer noch viel zu wenig Bürokratieentlastung im Betriebsalltag der Unternehmen ankomme.

Bund und Länder haben sich, wie insbesondere von den Steuerberatern gefordert und vom DEHOGA unterstützt, auf eine letztmalige Fristverlängerung für die Schlussabrechnung bei den Coronahilfen bis Ende September 2024 geeinigt, sofern eine Fristverlängerung bis zum 31. März 2024 beantragt und bewilligt wurde.