Max Kufner stammt aus einer Holzhauerdynastie. Sein Großvater und sein Vater haben im Bayerischen Wald einst Buchen vergiftet, um Platz zu schaffen für die so nützlichen Fichten. «Mit einem ähnlichen Mittel, das die Amerikaner in Vietnam zur Entlaubung eingesetzt haben», erzählt der Ranger der Nationalparkwacht.
Hektarweise haben sie die Nadelbäume gepflanzt, Meter mal Meter. Ein Schlaraffenland für Borkenkäfer, die den Wald in Windeseile töteten, Baum für Baum, auf einer Fläche so groß wie 10.000 Fußballfelder. Apokalyptische Bilder von nackten Stümpfen machten Ende der 1990er Jahre die Runde. Und im Bayerischen Wald tat man - einfach nichts.
«Damals haben die Einheimischen gedacht: Ihr seid's ja verrückt! Schaut's euch den kaputten Wald an», erinnert sich der 54-Jährige. «Heute stehe ich da und denke: Des is a Traum!»
Wo man der Natur ihren Lauf lässt
Der Nationalpark Bayerischer Wald, Deutschlands erster Nationalpark überhaupt, wird im Oktober 50 Jahre alt. Und seit mehr als drei Jahrzehnten gilt hier die Maxime «Natur Natur sein lassen».
Was das bedeutet, kann man zum Beispiel im Urwald Mittelsteighütte erleben: Umgestürzte Bäume, ineinander verkeilte Baumkronen und hoch aufragende Wurzelteller formen ein wucherndes Mosaik. Auf dem Boden vermodern Mutterstämme, auf denen nach 15 oder 20 Jahren unzählige kleine Fichten, Eschen und Buchen sprießen. Das morsche Holz und die Pilze, die darauf wachsen, kann man in der Luft schmecken.
«Waldwoge steht hinter Waldwoge, bis eine die letzte ist und den Himmel schneidet», dichtete einst Adalbert Stifter, 1805 in Böhmen geboren. Wer dem Baumwipfelpfad am Nationalparkzentrum bis auf den Aussichtsturm folgt, versteht.
Undurchdringliches Grün erstreckt sich bis zum Lusen, mit seiner Steinkuppel aus Granit der wohl markanteste Gipfel des Parks. Vor nicht allzu langer Zeit war das alles eher braun-schraffiert.
«Das war brutal», erinnert sich Brigitte Schreiner, eine weitere von 25 Rangern im Park. «Wir waren im Wald daheim und draußen starb der Wald.» Doch Totgesagte leben bekanntlich länger.
Von wegen Waldfriedhof
Gegen den Protest der Bevölkerung, die zu großen Teilen für eine Bekämpfung des Borkenkäfers und Pflanzaktionen plädierte, durften sich die Wälder des Nationalparks mit ihren Mooren, Bergbächen und Gipfellagen nach ihren eigenen Gesetzen und ohne menschlichen Einfluss zur Wildnis entwickeln: Gut 72 Prozent der insgesamt 24 000 Hektar des Schutzgebiets gehören inzwischen zu solchen Naturzonen.
Der noch Ende des letzten Jahrtausends totgesagte Wald hat sich nicht nur stark verjüngt, er wächst auch dichter und artenreicher als zuvor. Aus dem «größten Waldfriedhof Europas», wie ein Magazin damals titelte, ist ein riesiger Waldkindergarten geworden.
Luchse, Wölfe und jede Menge Auerhühner
Das mögen auch die Tiere. Auerhühner brüten wieder zu Hunderten in der Region, die zusammen mit dem tschechischen Nachbar-Nationalpark Sumava das größte Waldgebiet Mitteleuropas bildet.
Luchse, schon Mitte des 19. Jahrhunderts im Bayerischen Wald ausgerottet, streifen wieder durchs Dickicht. Wölfe ziehen hier ihren Nachwuchs groß. Allein 16 Käferarten, die als Urwaldrelikte gelten, wurden dank des hohen Anteils an Totholz schon entdeckt.
«Und bei den Pilzforschern gibt's jedes Jahr einen Neufund», sagt Max Kufner und grinst stolz unter seinem Schnauzer hervor.
Manche der seltenen Tiere müssen beschützt werden vor den 1,3 Millionen Besuchern, die inzwischen pro Jahr auf insgesamt mehr als 500 Kilometern markierter Wege wandern und radeln.
Fürs Auerwild zum Beispiel markieren die Ranger im Winter den Türsteher, damit die wenig stressresistenten Vögel nicht von arglosen Spaziergängern aufgescheucht werden. «Aber von Anfang an wollte man die Tiere den Menschen erlebbar machen», sagt Brigitte Schreiner, die schon seit 30 Jahren im Nationalpark arbeitet. Das Dilemma: «Wir sind halt ein Wald. Da sieht man die Viecher einfach nicht.»
Die Tiere haben Rückzugsräume
Zwei große, naturnah gehaltene Tierfreigelände in den Nationalparkzentren Lusen und Falkenstein sollen deshalb die Chancen erhöhen, Hirsch, Luchs und Co. zu erspähen – eine Garantie für eine erfolgreiche Fotosafari gibt es dank der vielen Rückzugsmöglichkeiten in den weiträumigen Gehegen aber nicht.
Schon zur Eröffnung des Nationalparks am 7. Oktober 1970 gab es innerhalb des heutigen Tierfreigeländes am Lusen einige Gehege: Die Vierbeiner sollten als Besuchermagnet dienen. Schließlich war Naturschutz damals für die Einrichtung eines Nationalparks kein wirklich tragendes politisches Argument. Dem wirtschaftlichen Sorgenkind an der ostbayerischen Grenze sollte der Tourismus helfen.
«Anfang der achtziger Jahre hat jede Familie, die ein freies Zimmer hatte, eine Ferienwohnung daraus gemacht», sagt Schreiner. Entsprechend besorgt war man um die zahlenden Gäste, als die Nationalparkfläche 1997 beinahe verdoppelt und damit noch mehr Wald dem Borkenkäfer ausgeliefert wurde.
Biber gestalten den Wald
Inzwischen sind die «Ökofaschismus»-Rufe freilich verhallt. Man kann eindrucksvoll sehen, wie die Tierwelt die Landschaft im Nationalpark gestaltet. An der Reschbachklause bei Finsterau beispielsweise, keine zwei Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, haben Biber ganze Teiche angestaut. Spitz abgenagte Baumstümpfe stehen an den Ufern. Wer genau hinschaut, kann sogar die Biberrutschen erkennen, die die Tiere im Winter nutzen.
Auch hier haben Borkenkäfer gewütet, die trockenen Stümpfe der abgestorbenen Fichten ragen noch wie Totempfähle aus dem Dickicht. Aber der Kahlschlag hat auch hier neues Leben ermöglicht: Wo der Wald lichter geworden ist und Sonnenstrahlen auf den Boden dringen konnten, wachsen die ersten Weidenröschen und Preiselbeeren, Heidel- und Brombeeren. Vereinzelt gibt es auch schon Birken und Ebereschen, deren Vogelbeeren die schmalen Pfade zwischen den beinahe schwarzen Tümpeln in einen zarten Vanilleduft hüllen.
Und wenn die Fichten schließlich wieder so hochgewachsen sind, dass kein Licht mehr auf den Waldboden fällt, verschwinden die kleineren Arten - bis der Kreislauf aus Werden und Vergehen von vorne beginnt.
Weitere Informationen
Anreise: Mit dem Auto über die A3, dann der Beschilderung zum Nationalpark folgen. Oder mit dem Zug nach Plattling oder Passau, weiter mit der Waldbahn Richtung Zwiesel, Bodenmais, Bayerisch Eisenstein oder Grafenau bzw. ab Passau mit dem Schnellbus 100 nach Grafenau. Vor Ort sind Urlauber per Bahn und Igelbus mobil. Infos unter www.bayerwald-ticket.com.
Übernachtung: Im Bayerischen Wald gibt es einige Hotels und Pensionen, vor allem aber Ferienwohnungen. Nationalpark-Partner wurden vom Nationalpark für Qualität, Regionalität und Umweltbewusstsein ausgezeichnet (www.nationalpark-partner.com).
Veranstaltungen: Das geplante Jubiläumsprogramm des Nationalparks Bayerischer Wald wurde aufgrund der Corona-Krise abgesagt. Der offizielle Festakt soll vom 18. bis 20. Juni 2021 nachgeholt werden. Führungen finden in reduzierter Form statt, eine Anmeldung ist erforderlich. Im Haus zur Wildnis ist bis zum 8. November die Sonderausstellung «50 Jahre (Wald)Entwicklung im Nationalpark Bayerischer Wald in Bildern» zu sehen, der Eintritt ist frei. (dpa)