Diskussion über Pandemie-Kurs – Inzidenz nicht mehr allein ausschlaggebend?

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Die Corona-Zahlen steigen wieder, aber muss das wirklich beunruhigen oder ist die Ausgangslage durch die Impfungen jetzt eine ganz andere? Das RKI plant, einem Medienbericht zufolge, schwere Corona-Erkrankungen mit Krankenhausaufenthalt als zusätzlichen Leitindikator einzuführen.

Die Entwicklung bei den Corona-Zahlen zeigt nach langem Sinkflug auch in Deutschland wieder nach oben. Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz stieg am Samstag den vierten Tag in Folge an, bewegt sich aber weiterhin auf niedrigem Niveau. In anderen europäischen Ländern gibt es bereits einen deutlicheren Anstieg. In der Politik wird darüber diskutiert, wie groß die Aussagekraft der Ansteckungszahlen angesichts der Impfungen noch ist. Wirtschaftsverbände sprechen sich gegen erneute harte Maßnahmen aus.

Zum sechsten Mal in Folge ist die 7-Tage-Inzidenz angestiegen. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts von Montagmorgen lag sie bei 6,4 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen. Die Gesundheitsämter in Deutschland haben dem RKI binnen eines Tages 324 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Das geht aus Zahlen vom Montagmorgen hervor, die den Stand des RKI-Dashboards von 04.13 Uhr wiedergeben. Zum Vergleich: Vor einer Woche hatte der Wert bei 212 Ansteckungen gelegen.

Deutschlandweit wurde den neuen Angaben zufolge binnen 24 Stunden 2 Todesfälle verzeichnet. Vor einer Woche war es 1 Toter gewesen. Das RKI zählte seit Beginn der Pandemie 3 736 489 nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2. Die tatsächliche Gesamtzahl dürfte deutlich höher liegen, da viele Infektionen nicht erkannt werden.

Hospitalisierungen als neuer Indikator?

Das RKI plant einem Medienbericht zufolge, schwere Corona-Erkrankungen mit Krankenhausaufenthalt als zusätzlichen Leitindikator einzuführen. Die Inzidenz stieg zum sechsten Mal in Folge und liegt nun bei 6,4.

Zur Einordnung des Pandemiegeschehens in Deutschland will das Robert Koch-Institut (RKI) einem Medienbericht zufolge die Hospitalisierung als zusätzlichen Leitindikator einführen. Das berichtete die "Bild"-Zeitung unter Berufung auf eine interne Präsentation des RKI. Eine solche Praxis würde eine Abkehr vom Inzidenzwert als wichtigste Kennzahl der Corona-Politik bedeuten. 

Es seien "weiterhin mehrere Indikatoren zur Bewertung notwendig, aber die Gewichtung der Indikatoren untereinander ändert sich", hieß es laut "Bild" in dem RKI-Papier. Das Institut begründet die Hinzunahme der Hospitalisierung demnach mit den "Konsequenzen zunehmender Grundimmunität".  

Dem Bericht zufolge rechnet das RKI mit einer "Abnahme des Anteils schwerer Fälle" und fordert daher einen "stärkeren Fokus auf die Folgen der Infektion", darunter schwere Erkrankungen mit Hospitalisierung, Todesfälle und langfristige Folgen. 

Gebannt schaut Deutschland auf die Inzidenz. Für viele war sie lange die maßgebliche Größe in der Corona-Pandemie: Bleibt der Sommer entspannt und ist sogar ein Ende aller Maßnahmen in Sicht - oder sind wieder Einschränkungen nötig? Nach langem und steilem Sinkflug steigt die Inzidenz nun wieder etwas, in anderen europäischen Ländern sogar deutlich. Gleichzeitig branden zusammen mit Öffnungsforderungen erneut Zweifel auf, wie aussagekräftig die Kennziffer noch ist.

VIELSTIMMIGE DEBATTE ÜBER WEITERES VORGEHEN

In der politischen Diskussion über den richtigen Umgang mit der aktuellen Situation wurden am Wochenende gleichermaßen Warnungen vor weiteren Lockerungen laut, wie auch Forderungen nach einem absehbaren Ende der Beschränkungen.

Zur Vorsicht rieten Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) oder Familienministerin Christine Lambrecht (SPD). Die Linke forderte zunächst einen Stopp weiterer Corona-Lockerungen. Bouffier rief dazu auf, noch «zumindest drei Monate» abzuwarten, um die Lage besser einschätzen zu können.

Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) plädierte für weitere Lockerungen bei deutlich steigender Impfquote. «Je mehr Menschen geimpft und getestet sind, desto mehr verliert der Inzidenzwert allein an Aussagekraft.» Ähnlich argumentierten die stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Bärbel Bas und Dirk Wiese in einer gemeinsamen Stellungnahme.

Die FDP forderte die Bundesregierung auf, bis zum Ende der Sommerpause ein Konzept für den geordneten Ausstieg aus Sonderregelungen in der Corona-Pandemie vorzulegen. Wirtschaftsverbände sprachen sich gegen erneute harte Maßnahmen aus, auch bei steigenden Corona-Zahlen.

ALLE AUGEN AUF GROßBRITANNIEN

Aufmerksam wird von Deutschland aus die Lage in Großbritannien beobachtet. Dort liegt die 7-Tage-Inzidenz bereits wieder bei über 280. Gleichzeitig dürfte Premier Boris Johnson am Montag verkünden, dass alle verbliebenen Corona-Regeln im größten Landesteil England zum 19. Juli aufgehoben werden.

Die Briten haben im Zuge der Ausbreitung der Delta-Variante seit Anfang Juni eine deutlich ansteigende Neuinfektionszahl gesehen. Auch die Zahlen der Todesfälle und Krankenhauseinweisungen steigen, sie sind aber bislang noch äußerst niedrig. Die Briten bejubeln das als Erfolg ihrer zügig voranschreitenden Impfkampagne. Der oberste britische Statistiker Ian Diamond sagte am Sonntag dem Sender Sky News, die Verbindung zwischen Infektionen und Klinikeinweisungen, schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen habe sich deutlich abgeschwächt.

WAS DER INZIDENZ-ANSTIEG BEDEUTET - UND WAS NICHT

Die Inzidenz gilt unter Experten weiterhin als Anzeiger dafür, wie sich das Virus in der Bevölkerung verbreitet. Die zentrale Frage sei, wie die stärkere Verbreitung des Virus zu interpretieren ist, sagte der Statistiker Helmut Küchenhoff von der Uni München der Deutschen Presse Agentur. Der aktuelle Inzidenz-Anstieg sei zwar «vielleicht ein Grund für Nervosität, aber noch kein Grund, um Lockerungen zurückzunehmen». Man müsse erstmal abwarten, um die Auswirkungen auf die tatsächliche Zahl der Erkrankungen absehen zu können.

WIE SICH DER BLICK AUF DIE ZAHLEN ÄNDERT

Viele Fachleute sind sich darin einig, dass mit zunehmendem Impfschutz in der Bevölkerung die Inzidenz in einem anderen Verhältnis zu schweren Verläufen steht als noch vor einigen Monaten. Wie groß dieser Unterschied ist, ist schwer einzuschätzen. Küchenhoff plädiert dafür, bei der Inzidenz in erster Linie auf die älteren Menschen zu blicken, da diese besonders anfällig für schwere Verläufe seien. Zuletzt war der Wert für Menschen ab 60 Jahren laut RKI-Daten weniger als halb so hoch wie in der Gesamtbevölkerung - und stieg laut Berechnungen Küchenhoffs zuletzt auch nicht. Das dürfte auch an der höheren Impfquote bei Älteren liegen.

DIE SICHT DES RKI

Das RKI gab noch Anfang Juni in einem Strategiepapier die 7-Tage-Inzidenz als einen von zwei Leitindikatoren bei der Bewertung der Corona-Lage an. Zuletzt schrieb das RKI in seinem Lagebericht «Die Rücknahme von Maßnahmen sollte aus epidemiologischer Sicht unbedingt schrittweise und nicht zu schnell erfolgen.» Zudem verweist das RKI in einer anderen Analyse darauf, dass sich die zunehmende Dominanz der Delta-Variante vor allem dann auf die Intensivstationen auswirkt, wenn die Impfquoten bei den 12 bis 59-Jährigen «bei 75 Prozent oder gar 65 Prozent stagnieren und gleichzeitig eine komplette Öffnung stattfindet».

ALTERNATIVE KENNZAHLEN

Das schon früh ausgegebene Ziel der Politik ist es, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten und schwere Erkrankungen sowie Todesfälle zu vermeiden. Aus Sicht von Küchenhoff sollte man genau auf diese Parameter schauen - also beispielsweise wieviele Neuaufnahmen von Corona-Fällen es in Kliniken gibt. Das Bundesgesundheitsministerium gab am Sonntag bekannt, dass Krankenhäuser künftig verpflichtet werden sollen, alle Krankenhausneuaufnahmen wegen Corona zu melden. Bisher wird lediglich die Zahl der Intensivpatienten zentral erfasst.


 

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